15

Vor dem breiten Höhleneingang im Wald brach dünn und dunstig der Tag an.

Das Raubtier hatte dort vor einer kleinen Weile Schutz gesucht, als die ersten schwachen Sonnenstrahlen begonnen hatten, sich durch die winterliche Dunkelheit zu fressen. Es gab nur wenige Dinge, die stärker waren als er, besonders auf diesem primitiven Planeten, der so anders war als die ferne Welt, in die er vor vielen Jahrtausenden hineingeboren worden war. Aber so hoch entwickelt seine Spezies auch war, seine unbehaarte, mit Dermaglyphen bedeckte Haut ertrug kein UV-Licht, und nur wenige Minuten da draußen würden ihn töten.

Tief in der sicheren dunklen Höhle ruhte er sich von der Jagd und seinen Streifzügen der letzten Nacht aus und wartete ungeduldig darauf, dass das dünne Tageslicht sich wieder erschöpfte und verblasste. Er musste schon bald wieder Nahrung zu sich nehmen. Er war immer noch hungrig, seine Zellen, Muskeln und Organe schrien nach Erneuerung nach der langen Zeit der Entbehrungen und Misshandlungen, die er in der Gefangenschaft hatte erdulden müssen. Sein Überlebensinstinkt lag im Krieg mit der Gewissheit, dass er auf diesem ungastlichen Trümmerhaufen, der im Weltall kreiste, völlig allein war.

Nun waren hier keine anderen seiner Art mehr übrig, schon seit langer Zeit nicht mehr. Er war der letzte von acht Kundschaftern, die auf diesem Planeten gestrandet waren, ein einsamer Schiffbrüchiger ohne jede Chance, jemals wieder von hier zu entkommen.

Sie waren geboren, um zu erobern, um Könige zu sein. Stattdessen waren seine gestrandeten Brüder einer nach dem anderen umgekommen, teils durch die lebensfeindliche neue Umgebung, teils im Krieg mit ihren eigenen halb menschlichen Nachfahren Jahrhunderte später. Durch Verrat und eine geheime Abmachung mit seinem Spross hatte er als Einziger überlebt, doch das hatte auch dazu geführt, dass Dragos, der Sohn seines Sohnes, ihn versklavt hatte.

Jetzt, wo er frei war, war das Einzige, das ihm erstrebenswerter schien als der Gedanke, sein Leben auf diesem gottverlassenen Planeten zu beenden, der Gedanke, dass er seinen doppelzüngigen Erben vielleicht mit in den Tod nehmen konnte.

Er heulte auf vor Wut bei der Erinnerung an die langen Jahrzehnte der Schmerzen und der Experimente, die man mit ihm angestellt hatte. Seine Stimme brachte die Wände der Höhle zum Erbeben, ein jenseitiges Brüllen, das. aus seinen Lungen fuhr wie ein Kampfruf.

Irgendwo, nicht weit entfernt in den Wäldern, antwortete ein Gewehrschuss.

Plötzlich raschelte es draußen im gefrorenen Farnkraut. Dann ertönte das Getrommel fliehender Pfoten, mehrere Tiere rannten nahe am Höhleneingang vorbei.

Wölfe.

Das Rudel teilte sich auf, die eine Hälfte rannte rechts, die andere links am Höhleneingang vorbei. Und nur wenige Sekunden hinter ihnen die Stimmen bewaffneter Männer, die ihnen hart auf den Fersen waren.

 “Da lang!“, rief einer von ihnen. „Das ganze verdammte Rudel ist diesen Bergkamm hochgerannt, Dave!“

„Ihr nehmt den westlichen Pfad, Männer“, befahl eine donnernde Stimme zur Antwort. „Lanny und ich gehen zu Fuß rauf. Da oben ist eine Höhle - die Chancen stehen gut, dass sich ein paar von den räudigen Viechern da oben verstecken.“

Motoren heulten auf, und der Gestank von brennendem Benzin erfüllte die Luft, als einige der Männer davonrasten. Wenige Augenblicke später erschienen vor dem Höhleneingang im Tageslicht, das ihm den einzigen Fluchtweg abschnitt, die Umrisse von zwei Männern mit langen Jagdgewehren. Der erste Mann war riesig, mit einem Brustkorb wie ein Fass, breiten Schultern und einem Bierbauch, der in jüngeren Jahren vielleicht muskulös gewesen war. Sein Begleiter war einen ganzen Kopf kleiner als er und etwa vierzig Kilo leichter, ein furchtsames Kerlchen mit einer dünnen Stimme.

„Ich glaube nicht, dass hier drin was ist, Dave. Und ich weiß nicht, ob es eine gute Idee war, uns von den anderen zu trennen ...“

In die Schatten verbannt, duckte sich der einzige Bewohner der Höhle hinter eine Wand aus rauen Felsbrocken - aber nicht schnell genug.

„Da! Ich hab da drin eben glühende Augen gesehen. Hab ich's nicht gesagt, Lanny? Wir haben eins von diesen verdammten Viechern direkt vor unserer Nase!“ Die Stimme des riesenhaften Mannes war aggressiv vor Jagdeifer, als er seine Waffe hob. „Halt mal die Taschenlampe rein, dass ich sehe, was ich abknalle, ja?“

„Äh, klar, Dave.“ Sein nervöser Begleiter fummelte eine Taschenlampe heraus, knipste sie an und ließ den zitternden Strahl über den Boden und die Wände der Höhle wandern. „Siehst du ihn irgendwo? Ich seh gar nichts da drin.“

Natürlich nicht, denn das glühende Augenpaar, das der größere Mann eben gesehen hatte, war nicht länger tief über dem Boden, sondern sah von oben auf die beiden Menschen herab. Das Raubtier lauerte nun über ihnen im Dunkeln, hing über ihren Köpfen an der felsigen Höhlendecke wie eine Spinne.

Der große Mann ließ sein Gewehr sinken. „Was zum Teufel? Wo ist er hin, verdammt?“

„Wir sollten nicht hier sein, Dave. Ich glaube, wir sollten wieder zu den anderen ...“

Der große Mann ging einige Schritte in die Höhle hinein. „Sei nicht so ein Schlappschwanz. Her mit der Taschenlampe!“

Als der kleinere Mann die Hand ausstreckte, um sie ihm zu geben, blieb er mit dem Stiefel an einem losen Felsbrocken hängen. Er stolperte und fiel mit einem überraschten Wimmern auf die Knie. „Oh Scheiße! Ich glaub, ich hab mir was aufgeschürft.“

Zum Beweis erhob sich eine plötzliche Wolke von kupfrigem Blutgeruch. Der Geruch von frischem Blut fräste sich in die Nasenlöcher des Raubtiers, es atmete ihn tief ein und stieß ihn mit einem Zischen durch seine gebleckten Zähne und Fangzähne wieder aus.

Unter ihm auf dem Höhlenboden sah der nervöse kleine Mann abrupt auf.

Unter dem außerirdischen, bernsteingelben Schein der durstigen Augen wurde sein erschrockenes Gesicht schlaff vor Entsetzen. Er schrie auf, seine Stimme war so hoch und piepsig wie die eines Mädchens.

Zur gleichen Zeit wirbelte der große Mann mit dem Gewehr herum.

Die Höhle explodierte in einem scharfen Knall und einem blendenden Lichtblitz, als das Raubtier von der Höhlendecke sprang und sich auf die beiden Männer stürzte.

 

Alex konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal so tief und so ununterbrochen geschlafen hatte. Auch konnte sie sich nicht erinnern, sich jemals so verausgabt und befriedigt gefühlt zu haben wie nach dem Sex mit Kade. Sie reckte sich unter dem flauschigen Stapel aus Decken und Schlafsäcken auf dem Boden, dann stützte sie sich auf den Ellbogen, um ihm zuzusehen, wie er mehr Holz aufs Feuer im kleinen Kanonenofen der Hütte legte.

Er saß geduckt auf den Fersen, die kräftigen Muskeln seines Rückens und seiner Arme dehnten und streckten sich, als er sich nach einem weiteren Scheit umdrehte, seine glatte Haut gebadet im warmen bernsteingelben Feuerschein. Sein kurzes schwarzes Haar war vom Schlaf verwuschelt, der glänzende Schopf ließ ihn wilder als sonst wirken, und das besonders, als er den Kopf drehte, um sie anzusehen und sie sich den wie gemeißelt wirkenden Kanten seiner Wangenknochen und seines Kiefers und dem durchdringenden Silber seiner Augen mit den dunklen Wimpern gegenübersah.

Er war umwerfend, hundertmal atemberaubender noch als sonst, wie er hier nackt vor ihr saß, mit seinem intensiven und vertraulichem Blick. Alex' Körper summte immer noch von der Erinnerung an ihre Leidenschaft, und der angenehme Schmerz zwischen ihren Beinen pulsierte wärmer, als er sie jetzt so ansah, als wollte er sich sofort wieder über sie hermachen.

„Haben wir das Tageslicht verschlafen?“, fragte sie, um das erhitzte Schweigen zu brechen.

Er nickte knapp. „Die Sonne ist schon ein paar Stunden weg.“

„Du warst draußen, wie ich sehe“, sagte sie mit Blick auf den frischen Brennholzstapel neben ihm.

„Ja“, sagte er. „Bin erst vor einer Minute wieder reingekommen.“

Sie lächelte und hob die Brauen. „Ich hoffe, du bist nicht so rausgegangen. Im Dunkeln haben wir höchstens minus siebzehn Grad.“

Er grunzte, sein sinnlicher Mund kräuselte sich belustigt. „Mir schrumpft schon nichts weg.“

Nein, das war definitiv kein Mann, der auch nur die leiseste Unsicherheit mit seiner Männlichkeit hatte. Jeder Zentimeter von ihm bestand aus schlanken, harten Muskeln. Mit seinen fast eins fünfundneunzig hatte er den brutalen Körper eines mythischen Kriegers, von den massiven, sehnigen Schultern und Oberarmen zu einer wie gemeißelt wirkenden Brust und dem Waschbrettbauch, der sich zu schmalen, perfekt geschnittenen Hüften verjüngte. Auch der Rest von ihm war beeindruckend perfekt, und dass er bestens damit umgehen konnte, wusste sie aus erster Hand.

Herr im Himmel, er war ein lebendes Kunstwerk, nur noch atemberaubender durch seine komplizierten, aber kunstvollen Tattoos - was das übrigens wohl für Tinte war? -, die sich über die goldene Haut seines Oberkörpers und seiner Gliedmaßen zogen, als hätte eine Geliebte sie genüsslich mit der Zunge gemalt.

Alex folgte den verschnörkelten, faszinierend fremdartigen Mustern mit den Augen und fragte sich, ob der Feuerschein ihr einen Streich spielte, denn die Hennafarbe seiner Tattoos schien irgendwie dunkler zu werden, als sie ihn in offener Bewunderung anstarrte.

Mit einem Grinsen, als sei er es gewohnt, von Frauen angehimmelt zu werden, stand er auf und kam langsam hinüber, wo sie in ihrem Nest auf dem Boden lag, völlig ungehemmt in seiner Nacktheit.

Alex lachte leise und schüttelte den Kopf. „Wird es dir je langweilig?“

Er ließ sich lässig neben sie fallen und hob eine dunkle Braue. „Langweilig?“

„Dass dir ständig Frauen verfallen“, sagte sie und erkannte überrascht, dass diese Vorstellung ihr gar nicht gefiel. Ganz im Gegenteil, und sie fragte sich, woher diese Eifersucht kam, wenn man bedachte, dass sie überhaupt keinen Anspruch auf ihn hatte, nur weil sie ein paar Stunden Sex gehabt hatten - okay, zugegeben, absolut spektakulären Sex.

Er strich ihr eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht und suchte ihren Blick. „Ich sehe gerade nur eine Frau hier bei mir. Und ich kann dir versichern, die ist alles andere als langweilig.“

Er nahm ihr Gesicht in die Hände und küsste sie, ließ sie wieder auf die Decken gleiten. Mit glühendem Blick sah er auf sie hinab, und sie konnte den Druck seiner Erektion an ihrer Hüfte spüren. „Du bist eine ganz besondere Frau, Alexandra. Mehr als du weißt.“

„Du kennst mich doch nicht mal“, protestierte sie ruhig, mehr um sich selbst daran zu erinnern als ihn. Sie kannten sich wie lange - ein paar Tage? Es sah ihr so gar nicht ähnlich, jemanden so schnell und so tief in ihr Leben einzulassen, schon gar nicht nach so kurzer Zeit. Also warum ihn? Warum jetzt, wo ihre ganze Welt sich anfühlte, als stünde sie direkt vor einem tiefen Abgrund? Ein starker Stoß aus der falschen Richtung, und sie war verloren.

„Du weißt gar nichts über mich ... nicht wirklich.“

„Dann erzähl's mir.“

Sie sah auf in seine Augen, aufgeschreckt von der Ernsthaftigkeit, der inständigen Bitte in seiner Stimme. „Dir erzählen ...“

„Erzähl mir, was in Florida passiert ist, Alex.“

Schlagartig wich ihr alle Luft aus den Lungen. „Ich hab es dir doch erzählt...“

„Ja, aber du und ich wissen beide, dass es kein alkoholisierter Fahrer war, der dir deine Mom und deinen Bruder genommen hat. Es war etwas anderes, nicht wahr? Etwas, was du all die Jahre geheim gehalten hast.“ Er sprach mit sanfter Geduld, ermutigte sie, ihm zu vertrauen. Und sie spürte weiß Gott, dass sie bereit dazu war. Sie musste es mit jemandem teilen, und in ihrem Herzen wusste sie, dass Kade dieser Jemand war. „Es ist okay, Alex. Du kannst mir die Wahrheit sagen.“

Sie schloss die Augen und spürte die schrecklichen Worte - die schrecklichen Erinnerungen - wie Säure in ihrer Kehle aufsteigen. „Ich kann nicht“, murmelte sie. „Ich habe versucht, das alles hinter mir zu lassen ... es war so harte Arbeit, das alles zu vergessen ... und wenn ich es ausspreche ... dann wird das alles wieder real.“

„Du kannst nicht dein ganzes Leben lang vor der Wahrheit davonlaufen“, sagte er, und etwas Gehetztes schlich sich in seine Stimme. Eine Traurigkeit, eine Resignation, die ihr sagten, dass er etwas von der Last verstand, die sie schon so lange mit sich herumtrug. „Davon, dass man etwas nicht wahrhaben will, geht es nicht einfach weg, Alex.“

„Nein, tut es nicht“, antwortete sie leise. In ihrem Herzen wusste sie das. Sie hatte es satt, davonzulaufen und sich damit abzukämpfen, den Schrecken ihrer Vergangenheit unter Verschluss zu halten. Sie wollte endlich von alldem frei sein, und das bedeutete, dass sie sich der Wahrheit stellen musste, wie schrecklich und unbegreiflich sie auch war. Aber die Angst war ein mächtiger Feind. Vielleicht übermächtig. „Ich hab Angst, Kade. Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin, das allein durchzustehen.“

„Bist du.“ Er drückte ihr einen sanften Kuss auf die Schulter, dann suchte er ihren Blick. „Aber du bist nicht allein. Ich bin bei dir, Alex. Erzähl mir, was passiert ist. Ich helfe dir da durch, wenn du mich lässt.“

Sie hielt seinem flehenden Blick stand und fand in der stählernen Stärke seiner Augen den Mut, den sie brauchte. „Wir hatten so einen schönen Tag zusammen, wir alle. Wir hatten ein Picknick unten am Wasser gemacht, und ich hatte Richie eben den Rückwärtssalto vom Kai beigebracht. Er war erst sechs, aber er hatte überhaupt keine Angst und wollte mir alles nachmachen.

Es war so ein perfekter Tag, wir hatten so viel Spaß zusammen.“

Bis die Dunkelheit sich über den Sumpf gelegt und das Entsetzen mitgebracht hatte.

„Ich weiß nicht, warum sie sich unsere Familie ausgesucht haben. Ich habe nach einem Grund gesucht, aber nie einen finden können, warum sie aus der Nacht kamen, um uns anzugreifen.“

Kade streichelte sie vorsichtig, als sie um die nächsten Worte rang. „Manchmal gibt es keinen Grund. Manchmal passieren Dinge einfach, und wir können nichts tun, um Gründe zu finden. Das Leben und der Tod sind nicht immer ordentlich und logisch.“

Manchmal sprang der Tod aus den Schatten wie ein Geist, wie ein Monster, das zu entsetzlich war, um real zu sein.

„Sie waren zu zweit“, murmelte Alex. „Wir merkten nicht einmal, dass sie da waren, bis es zu spät war. Es war dunkel, und wir saßen alle nach dem Abendessen noch gemütlich auf der Veranda draußen. Meine Mom saß mit Richie auf der Hollywoodschaukel und las uns vor dem Schlafengehen aus Pu der Bär  vor. Da kam ohne jede Warnung der Erste und sprang sie an.“

Kades Hand hielt inne. „Du redest nicht von einem Mann.“

Sie schluckte. „Nein. Es war kein Mann. Er war nicht einmal ... ein Mensch. Er war etwas anderes. Etwas Böses. Er hat sie gebissen, Kade. Und dann hat der andere sich Richie geschnappt. Mit den Zähnen.“

„Mit den Zähnen“, sagte er ruhig, ohne eine Spur Schock oder Ungläubigkeit in der Stimme, nur ruhiges, grimmiges Verstehen. „Du meinst Fangzähne, nicht, Alex? Die Angreifer hatten Fangzähne.“

Sie schloss die Augen, als ihr aufging, wie unmöglich das war. „Ja. Sie hatten Fangzähne. Und ihre Augen ... sie glühten im Dunkeln wie helle Kohlen, und ihre Pupillen waren dünn und lang wie die einer Katze. Das können keine Menschen gewesen sein. Das waren Monster.“

Kades Berührung auf ihrem Gesicht und Haar tröstete sie ein wenig, als sich das Entsetzen dieser schrecklichen Nacht aufs Neue vor ihrem inneren Auge abspielte. „Es ist okay. Du bist jetzt in Sicherheit. Ich wünsche mir nur, ich wäre dabei gewesen, um dir und deiner Familie zu helfen.“

Das war lieb gemeint von ihm, aber natürlich völlig unmöglich. Schließlich konnte er nur ein paar Jahre älter sein als sie. Aber an der Aufrichtigkeit seiner Stimme spürte sie, dass er es wirklich ernst meinte. Egal, wie ihre Chancen standen oder wie monströs die Gegner waren, denen sie sich gegenübersahen, Kade hätte sich ihnen entgegengestellt. Er hätte sie alle verteidigt und beschützt, wo niemand sonst es gekonnt hätte.

„Mein Vater hat versucht, sie abzuwehren“, murmelte Alex, „aber es ging alles so schnell. Und sie waren so viel stärker als er. Sie haben ihn umgehauen, als wäre er nichts. Da war Richie schon tot. Er war noch so klein, er hatte keine Chance, einen so brutalen Angriff zu überleben. Meine Mutter schrie meinem Dad zu, wegzurennen, um mich zu retten, wenn er konnte. ,Lass meine Tochter nicht sterben!' Das waren ihre letzten Worte. Der, der sie gepackt hatte, hat ihr seine riesigen Zähne in den Hals geschlagen und nicht mehr losgelassen, einfach fest zugebissen. Er war ... oh Gott, Kade. Das klingt jetzt total verrückt, aber er ... er hat ihr Blut getrunken.“

Eine Träne rollte ihr die Wange hinunter, und Kade drückte seine Lippen auf ihre Stirn, zog sie fester an sich und spendete ihr den bitter benötigten Trost.

„Das klingt nicht verrückt, Alex. Und es tut mir leid, was du und deine Familie durchgemacht habt. Niemand sollte solchen Schmerz und solchen Verlust ertragen müssen.“

Obwohl sie diese Erinnerungen nicht hatte wecken wollen, waren sie jetzt wieder auferstanden, und nachdem sie sie so lange in sich begraben hatte, spürte sie, dass sie sie nicht länger verschweigen konnte. Nicht, wenn Kade da war und sie festhielt, sie wärmte und ihr das Gefühl gab, dass sie so sicher war wie noch nie in ihrem Leben.

„Sie haben Mom und Richie zerfleischt wie die Tiere. Nein, nicht einmal Tiere würden so was tun. Und, oh Gott ... da war so viel Blut. Mein Vater hat mich hochgezerrt und ist mit mir losgerannt. Aber ich konnte nicht wegsehen. Ich wollte nicht mehr sehen, was hinter uns im Dunkeln passierte, aber es war alles so irreal. Mein Verstand konnte es nicht verarbeiten. Es ist jetzt Jahre her, und ich bin immer noch nicht sicher, dass ich erklären kann, was uns in jener Nacht angefallen hat. Ich will nur ... ich will, dass es einen Sinn ergibt, und es ergibt keinen. Das wird es nie.“ Sie holte Atem bei der Erinnerung an einen frischeren Schmerz, eine Verwirrung neueren Datums. Sie sah auf in Kades ernsten Blick. „Es waren genau dieselben Verletzungen wie bei der Familie Toms. Sie wurden genauso angefallen wie wir, von denselben Monstern. Sie sind hier in Alaska, Kade ... und ich hab solche Angst.“

Für einen langen Augenblick sagte Kade nichts. Sie konnte sehen, wie sein wacher Verstand über all das nachdachte, was sie ihm erzählt hatte, über jedes unglaubliche Detail. Jeder andere hätte das alles voller Hohn und Verachtung abgetan oder ihr geraten, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Aber er nicht. Er akzeptierte ihre Wahrheit so, wie sie war, und in seinen Augen oder seiner ruhigen Stimme war nicht die Spur eines Zweifels. „Du musst nicht mehr davonlaufen. Du kannst mir vertrauen. Dir wird nichts Schlimmes passieren, solange ich bei dir bin. Glaubst du mir, Alex?“

Sie nickte, und erst jetzt ging ihr auf, wie unerschütterlich ihr Vertrauen zu ihm war. Sie vertraute ihm auf einer Ebene, die nicht mehr nur Instinkt war, sondern tiefer ging. Es war ihr Blut, das ihm vertraute. Was sie für ihn empfand, trotzte der Tatsache, dass er erst in dieser Woche in ihr Leben getreten war.

Auch hatte es nichts damit zu tun, dass sie körperlich für ihn in Flammen stand - nach ihm hungerte auf eine Art, über die sie lieber nicht genauer nachdenken wollte.

Sie sah einfach in Kades unverwandte Augen und wusste in den Tiefen ihrer Seele, dass er stark genug war, jede Last zu tragen, die sie ihm anvertraute.

„Es ist mir wichtig, dass du mir vertraust“, sagte er sanft. „Es gibt da etwas, was du verstehen musst, Alex, jetzt mehr denn je. Über dich selbst und darüber, was du damals in Florida gesehen hast und jetzt auch hier. Und es gibt auch etwas, was du über mich wissen musst.“

Sie setzte sich auf, ihr Herz schlug seltsam dumpf in ihrer Brust, schwer von einem bangen Gefühl der Erwartung. „Wovon redest du?“

Da sah er von ihr weg, folgte mit den Augen seiner Hand, die zärtlich ihren nackten Körper hinunterwanderte, bis sie auf ihrem Hüftknochen liegen blieb.

Mit der Daumenspitze fuhr er einen Kreis um das winzige Muttermal, das sie dort trug. „Du bist anders, Alexandra. Außergewöhnlich. Das hätte mir sofort auffallen müssen. Da waren Anzeichen, aber sie sind mir irgendwie entgangen.

Ich war auf anderes konzentriert, und ich ... ach verdammt.“

Alex runzelte die Stirn, verwirrter denn je. „Was versuchst du mir da zu sagen?“

„Du bist nicht wie andere Frauen, Alex.“

Als er jetzt wieder zu ihr aufblickte, war das Selbstbewusstsein, das normalerweise so hell in seinen Augen funkelte, fort. Er schluckte, ein trockenes Klick in seiner Kehle, das ihr Blut in den Adern ein wenig gefrieren ließ. Was auch immer er da sagen wollte, jetzt war er es, der Angst hatte, und diese Spur von Unsicherheit an ihm zu sehen, vergrößerte auch ihre eigene Beunruhigung wieder.

„Du bist ganz anders als andere Frauen, Alex“, sagte er wieder zögernd. „Und ich ... du musst wissen, dass auch ich nicht wie andere Männer bin.“

Sie blinzelte und spürte im Schweigen, das sich zwischen ihnen ausbreitete, wie sich eine schwere, unsichtbare Last über sie legte. Derselbe Instinkt, der ihr sagte, weiter nachzufragen, flehte sie an, sich zurückzuziehen und so zu tun, als ob sie nicht wissen wollte - nicht wissen musste,  was Kade so sprachlos und nervös machte. Alles, was sie tun konnte, war, ihn anzusehen, zu warten und sich zu sorgen, dass er ihre ganze Welt noch mehr auf den Kopf stellte.

Das scharfe Piepen ihres Handys durchzuckte sie wie ein Stromschlag. Es klingelte wieder, und sie hechtete danach, froh über die Entschuldigung, der seltsamen, düsteren Veränderung in Kades Verhalten zu entkommen.

Sie erkannte Zachs Nummer, als sie das Handy aufklappte und den Anruf entgegennahm. „Alex hier.“

„Wo steckst du?“, fragte er und nahm sich nicht einmal die Zeit für eine Begrüßung. „Ich bin eben bei deinem Haus vorbeigefahren, und du bist nicht da. Bist du draußen bei Jenna?“

„Nein“, sagte sie. „Jenna war heute Morgen bei mir, bevor ich los bin. Sie muss heimgegangen sein.“

„Also wo zum Teufel steckst du?“

„Bin geschäftlich unterwegs“, sagte sie, etwas verärgert über seinen knappen Ton. „Ein, äh, einer meiner Charterkunden hat heute früh einen Flug gebucht...“

„Nun, wir haben eine üble Situation hier in Harmony“, unterbrach Zach sie barsch. „Ich habe hier einen Notfall. Du musst mir einen Schwerverletzten aus der Wildnis einfliegen.“

Alex kam schlagartig aus der emotionalen Benommenheit zu sich, die sie vor dem Anruf erfüllt hatte. „Wer ist verletzt, Zach? Was ist los?“

„Es ist Dave Grant. Ich hab noch nicht die ganze Geschichte, aber er und Lanny Ham und ein paar andere Männer aus dem Ort waren heute westlich der Stadt auf der Jagd. Es hat sie übel erwischt. Lanny Ham ist tot, und für Big Dave sieht es gerade gar nicht gut aus. Die Jungs wagen nicht, ihn mit dem Motorschlitten reinzubringen, weil das zu lange dauert und sie Angst haben, dass er ihnen unterwegs wegstirbt.“

„Oh mein Gott.“ Alex ließ sich in den Schneidersitz sinken, eine kalte Taubheit kroch ihr über die Haut. „Die Verletzungen, Zach ... wie sehen die aus? Was ist passiert?“

„Etwas hat sie da draußen angegriffen, sagen die anderen Männer. Dave hat einen Schock und ist nicht mehr ansprechbar, er hat eine Menge Blut verloren.

Ab und zu kommt er zu sich und redet Unsinn von einer Kreatur, die ihnen in einer der Höhlen westlich von Harmony aufgelauert hat. Was immer es war, das ihn und Lanny angefallen hat, nun, es war schlimm, Alex. Wirklich schlimm. Hat die beiden schrecklich zugerichtet. Die ganze Stadt weiß schon Bescheid, es ist Panik ausgebrochen.“

Sie schloss die Augen. „Oh mein Gott... mein Gott...“

Kade legte ihr sanft die Hand auf die nackte Schulter. „Was ist, Alex?“

Stumm schüttelte sie den Kopf, brachte kein Wort heraus.

„Wer ist da bei dir, Alex?“, fragte Zach. „Scheiße, Alex. Bist du mit dem Typen von neulich bei Petes zusammen?“

Alex dachte nicht, dass sie Zach Tucker Rechenschaft schuldete, mit wem sie zusammen war; nicht, wenn ein Mann tot war und das Leben eines anderen an einem seidenen Faden hing. Nicht, wenn der Schrecken ihrer Vergangenheit erst vor wenigen Tagen die Familie Toms heimgesucht hatte und jetzt all ihre alten Wunden wieder aufriss.

„Ich bin draußen bei Tulaks Hütte, Zach. Ich fliege sofort los, aber es wird circa fünfundvierzig Minuten dauern.“

„Vergiss es. Wir können es uns nicht leisten, auf dich zu warten. Ich frage Roger Bemis.“

Er legte auf und ließ Alex starr vor Schock sitzen.

„Was ist passiert?“, fragte Kade. „Wer ist verletzt?“

Einen Augenblick lang konnte sie sich nur auf ihre Atmung konzentrieren. Ihr Herz hämmerte, und ihr war ganz elend vor Schuldgefühlen. „Ich hätte sie warnen sollen. Ich hätte ihnen sagen sollen, was ich wusste, statt zu denken, ich könnte es ihnen verschweigen.“

„Alex?“ Kades Stimme war vorsichtig, als er ihr Gesicht mit sanften, aber bestimmten Fingern hob, bis sie ihn ansah. „Sag mir, was los ist.“

„Big Dave und Lanny Harn“, murmelte sie. „Sie wurden heute draußen in der Wildnis angegriffen. Lanny ist tot. Big Dave wird vielleicht nicht durchkommen.“

Und wenn Kade sie begleitet hätte, statt mit ihr hier herauszufliegen? Beim Gedanken, dass er womöglich derselben Gefahr ausgesetzt gewesen - oder noch schlimmer, ihr zum Opfer gefallen - wäre, zog sich ihr Herz zusammen.

Ihr war ganz elend vor Angst und Grauen, aber es war ihre Wut, an die sie sich jetzt klammerte.

„Du hast recht, Kade. Ich kann nicht davonrennen vor dem, was ich weiß.

Nicht mehr. Ich muss mich diesem Ding stellen und Farbe bekennen, bevor noch jemand verletzt wird.“ Ihre Angst hielt sie nieder, aber ihre Wut gab ihr den nötigen Auftrieb. „Ich muss die Wahrheit sagen - allen in Harmony. Der ganzen verdammten Welt, wenn es sein muss. Die Leute müssen wissen, was da draußen ist. Sie können nichts gegen ein Monster ausrichten, von dem sie nicht einmal wissen, dass es existiert.“

„Alex.“ Er presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf, als wollte er ihr abraten. „Alex, ich halte das für unklug

Ungläubig hielt sie seinem Blick stand. „Wegen dir fühle ich mich doch stark genug, das zu tun, Kade. Wir müssen jetzt alle zusammenhalten und dieses Ding besiegen.“ „Ach, verdammt... Alex ...“

Sein Zögern fühlte sich an, als drückte sieh eine kalte Klinge langsam gegen ihr Brustbein. Es verwirrte sie, dass er auf einmal so anders war, aber sie war zu entschlossen, das Richtige zu tun - zu tun, was sie jetzt tun musste. Sie wich vor ihm zurück und begann sich anzuziehen. „Ich muss zurück nach Harmony, in fünf Minuten fliege ich los. Entweder du kommst mit, oder du lässt es bleiben.

Lara Adrian- 07- Gezeichnete des Schicksals
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